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Brücken in die Arbeitswelt

by ulbricht
Kofo Essen, 09.10.2002

Brücken in die Arbeitswelt – Das Bildungszentrum für Hörgeschädigte Essen e.V. stellt seine Arbeit und seine Erfahrungen vor

Referent: Andreas Mügge

Brücken in die Arbeitswelt
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Brücken in die Arbeitswelt

Vortrag im Kommunikationsforum Essen am 09.10.2002:

Brücken in die Arbeitswelt – Erfolg im Beruf

Sehr geehrte Damen und Herren, liebes Publikum!
Ich freue mich, dass Sie gekommen sind und bedanke mich sehr herzlich beim Kommunikationsforum für die Einladung, heute Abend hier über die Arbeit und die Erfahrungen des Vereins Bildungszentrum für Hörgeschädigte Essen zu berichten, der hörgeschädigte Menschen in Nordrhein – Westfalen bei ihrer betrieblichen Eingliederung unterstützt.

Das Thema ist „Brücken in die Arbeitswelt – Erfolg im Beruf“.
Besonders gerne bin ich hier – da gibt es so etwas wie Heimatgefühle – weil das Bildungszentrum für Hörgeschädigte Essen e.V. (ich sage jetzt kurz: Bildungszentrum) Ende der 80er Jahre bis in die 90er Jahre hinein seinen Sitz hier in der linken Dachgeschosswohnung des Internates gehabt hat und ich selbst also mehrere Jahre täglich hierhin zur Arbeit gegangen bin.

Inzwischen hat sich diese Arbeit ausgeweitet, die Zahl der MitarbeiterInnen ist gestiegen und das Bildungszentrum hat nun schon seit neun Jahren sein Haupthaus 200 Meter von hier in der Kerckhoffstraße 127,das ist das graue Eckhaus schräg gegenüber vom Berufskolleg.
Übrigens: Wenn Sie sich dort einmal weitergehend informieren wollen sind Sie herzlich willkommen.

Heute Abend habe ich meinen Vortrag in zwei Teile aufgeteilt:
Zuerst berichte ich Ihnen, wie und warum das Bildungszentrum gegründet wurde und wie die Arbeitsschwerpunkte und die Erfolge aussehen.
Im zweiten Teil erzähle ich von den Erfahrungen, die die MitarbeiterInnen des Bildungszentrums in den letzten 16 Jahren gesammelt haben und warum für viele hörgeschädigte junge Erwachsene der Übergang Schule – Betrieb so schwierig ist und sie Probleme bekommen im Beruf erfolgreich zu sein. Auch berichte ich noch kurz von dem Versuch des Bildungszentrums eine konstruktive Antwort auf dieses Problem zu geben, in dem das Projekt Überblick mit den abgebenden Schulen in Nordrhein – Westfalen zusammenarbeitet, damit dort schon die Vorbereitung auf das Arbeitsleben verbessert wird.

Ich werde bei meinem Vortrag am vorbereiteten Text bleiben, was Ihnen eine gewisse Anstrengung zumutet, es uns allen aber erlaubt, den Text durch die Schreibdolmetscherin Frau Widners direkt lesbar gemacht zu bekommen.

Im zweiten Teil des Kommunikationsforums besteht dann die Möglichkeit zu einem offeneren Austausch, zu Nachfragen und Diskussionen, und ich hoffe, dass Sie davon regen Gebrauch machen.

Ich beginne, indem ich mich kurz vorstelle:
Mein Name ist Andreas Mügge, ich bin 45 Jahre alt und Geschäftsführer des Bildungszentrums für Hörgeschädigte. Als solcher koordiniere ich die Projekte und bin auch selbst im Qualifizierungslehrgang tätig, indem ich einige schwerhörige Teilnehmer begleite und Lehrgangsfirmen anwerbe. Von der Ausbildung her bin ich Dipl.-Pädagoge und –Sozialarbeiter. Zur Arbeit mit hörgeschädigten Menschen bin ich 1985 gekommen. Damals holte mich der Vorsitzende des Landeselternverbandes Deutscher Gehörlosenschulen, Karl-Heinz Hahne, der sein Büro ja auf dem Gelände des Rhein.- Westf. Berufskollegs hat, zu sich in die Elternberatung. Als zentrales Interesse der Eltern hörgeschädigter Kinder stellte sich eine fehlende aktive Hilfestellung beim Einstieg in das Berufsleben heraus.

Gleichzeitig ist uns aufgefallen, dass ehemalige Schüler der Vorklassen des Rhein.- Westf. Berufskollegs sich weiterhin auf dem Schulgelände trafen, obwohl Ihnen das Berufskolleg selbst kein schulisches Angebot mehr machen konnte. Es wurde also offensichtlich, dass für diese zahlenmäßig große Personengruppe der Berufseinstieg nicht klappte.

Auf Initiative von Vorklassen-Koordinator Studiendirektor Walter Nabrotzky und Karl-Heinz Hahne entstand die Idee, einen eigenständigen Träger zu schaffen, der leistungsschwächere gehörlose und schwerhörige junge Erwachsene bei deren betrieblicher Integration unterstützt und so das Angebot des Berufskollegs ergänzt.
So kam es, dass 1986 das Bildungszentrum für Hörgeschädigte gegründet wurde. Beispielhaft ist hier das Zusammenwirken von Elternverband und Berufskolleg, das es so weder in anderen Bundesländern noch bei anderen Behindertengruppen gibt. Dieses Zusammenwirken kommt auch in der Satzung zum Ausdruck.
Erster Vorsitzender des Bildungszentrums ist immer der Leiter des Rhein. Westf. Berufskollegs, zweiter Vorsitzender des Bildungszentrums ist immer der Vorsitzende des Betroffenen-Dachverbandes Deutsche Gesellschaft, zur Zeit Dr. Ulrich Hase.
Das Bildungszentrum für Hörgeschädigte stellt jetzt im 16. Jahr Angebote bereit, damit auch schwerhörige und gehörlose junge Erwachsene mit Lerndefiziten eine angemessene Beschäftigung finden und ihren

Lebensunterhalt selbst verdienen können. Hier Brücken in die Arbeitswelt zu bauen haben wir uns zur Aufgabe gemacht, wobei von Beginn an drei Merkmale für die Arbeit kennzeichnend sind:

Erstens: In Ergänzung und Fortführung der schulischen Angebote des Rhein.- Westf. Berufskollegs wendet sich das Bildungszentrum bewusst an hörgeschädigte junge Erwachsene mit Lerndefiziten, die keinen Hauptschulabschluss erreicht haben, deren Ausbildungsabschluss ohne zusätzliche Hilfen infrage gestellt ist oder die arbeitslos sind.

Zweitens: Die Angebote des Bildungszentrums sind betrieblich orientiert, auf das duale System ausgerichtet. Den jungen Erwachsenen sollen betriebliche Wirklichkeiten und Regeln erfahrbar
gemacht werden, sie sollen den Ort kennen lernen können, an dem sie anschließend auch beschäftigt oder ausgebildet werden, an dem sie ihr Geld verdienen.

Drittens: Kennzeichnend für die Arbeit ist der NRW-weite Ansatz, so dass die Integration am Heimatort der Hörgeschädigten, in Wesel, Bonn oder irgendwo im Sauerland stattfinden kann. Vorteilhaft ist, dass Kollegen und Freunde auch in der Freizeit erreichbar sind und der Berufseinstieg so durch das vertraute soziale Umfeld leichter fällt.

Wegen der Intensität der Betriebsbetreuung und der damit verbundenen Fahrtzeiten können die Maßnahmen des Bildungszentrums nur für Hörgeschädigte aus Nordrhein – Westfalen angeboten werden.

Die Arbeit des Bildungszentrums hat sich seit 1986 kontinuierlich ausgeweitet und zunehmend an Bedeutung gewonnen. Wir begleiten in unseren Maßnahmen jetzt ca. 180 hörgeschädigte Menschen pro Jahr und beschäftigen zur Zeit 25 hauptamtliche MitarbeiterInnen, davon 14 SozialarbeiterInnen und 5 LehrerInnen.
Im Bildungszentrum gibt es seit dem ersten Tag regelmäßige DGS-Kurse als Mitarbeiterfortbildung, so dass alle Mitarbeiter über gute Gebärdensprachkenntnisse verfügen. Einige sind DolmetscherInnen bzw. absolvieren zur Zeit die Gebärdensprachdolmetschausbildung.
Wir arbeiten von Beginn an mit gehörlosen und schwerhörigen (und in letzter Zeit verstärkt auch mit fehlhörigen) Teilnehmern und beschäftigen selbst drei schwerhörige Kolleginnen und einen gehörlosen Kollegen. Außerdem arbeiten wir mit gehörlosen und schwerhörigen Expertengruppen zusammen.

Sehr geehrte Damen und Herren,
ich möchte nun auf die einzelnen Projekte des Bildungszentrums zu sprechen kommen:
Zunächst ist da der Qualifizierungslehrgang, das ist die Maßnahme, für die das Bildungszentrum 1986 gegründet worden ist.
Der einjährige kooperative Qualifizierungslehrgang ist ein Angebot für Jugendliche, die zumeist keinen Hauptschulabschluss erreicht haben. An ihm können vor allem gehörlose und schwerhörige junge Erwachsene teilnehmen, die vorab in den Vorklassen des Rhein.- Westf. Berufskollegs bereits ein Jahr lang Berufsfelder kennen gelernt und ausprobiert haben, so dass sich ihr Berufswunsch festigen konnte. Die jugendlichen Lehrgangsteilnehmer haben in ihrer Schullaufbahn im allgemeinen kaum Bestätigung erfahren. Sie sind in der Regel schulmüde, haben aber eine hohe Motivation, betriebliche Wirklichkeiten kennen zu lernen und über ihre praktischen Tätigkeiten Bestätigung zu erhalten. Im Lehrgang lernen die Jugendlichen nun, Belastungen am Arbeitsplatz zu ertragen und ihre soziale Rolle als Arbeitnehmer zu verstehen. Grundidee des Lehrgangs ist dabei, dass auch die leistungsschwächeren hörgeschädigten Jugendlichen mit einer Anfangsunterstützung in die Lage versetzt werden, einen Arbeitsplatz dauerhaft auszufüllen und ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen.
Der Qualifizierungslehrgang umfasst

  • die sorgfältige Beratung des Jugendlichen hinsichtlich des Wunschberufes zusammen mit Vorklassenlehrern und Sozialarbeitern des Berufskollegs und dem zuständigen Reha-Berater des Wohnort-Arbeitsamtes, der auch die Entscheidung über die Lehrgangsteilnahme trifft,
  • die Auswahl geeigneter Betriebe und die Ansprache eines Wunschbetriebes,
  • ein neunmonatiges betreutes Praktikum in diesem Wunschbetrieb am Wohnort in Nordrhein – Westfalen,
  • drei Monate Unterricht am Rhein. Westf. Berufskolleg als Bestandteil des Lehrgangs,
  • acht lehrgangsbegleitende Seminartage im Bildungszentrum in Essen (Gruppenarbeit zu Fragen der betrieblichen Praxis) sowie
  • die regelmäßige Beratung und Betreuung im Betrieb durch die SozialabeiterInnen des Bildungszentrums. Im Wunschbetrieb werden die Lehrgangsteilnehmer auf der Grundlage eines individuellen Lehrgangsplanes, in dem Ausbildungsinhalte des 1. und 2. Ausbildungsjahres (des zugehörigen Ausbildungsberufes) in Bezug auf die betrieblichen Gegebenheiten zusammengefasst sind, qualifiziert.

Am Qualifizierungslehrgang nehmen jährlich ca. 60 schwerhörige und gehörlose junge Erwachsene teil, und gut 60 % schaffen es direkt, sich durch den Lehrgang einen Beschäftigungs- oder Ausbildungsvertrag zu erarbeiten.

Das zeigt, dass durch die Kombination Vorklasse am Berufskolleg und Qualifizierungslehrgang vor Ort auch leistungsschwächere junge Erwachsene sehr wohl in die Lage versetzt werden einen Arbeitsplatz dauerhaft auszufüllen.

Nun zum zweiten Projekt des Bildungszentrums, und das sind die
Ausbildungsbegleitenden Hilfen (ABH), die es im Bildungszentrum seit 1991 gibt.
Sie sind entstanden zunächst als Antwort auf die Tatsache, dass Lehrgangsbetriebe am Ende des Qualifizierungslehrgangs den Teilnehmern nicht einen Arbeitsvertrag, sondern aufgrund der Entwicklung im Lehrgang einen Ausbildungsvertrag angeboten haben.
Hier hat sich die Frage gestellt, ob der Motivationsschub im Lehrgang auch ausreicht, um eine dreijährige Ausbildung mit anderen Anforderungen durchzuhalten. Nun sind diese Ausbildungsbegleitenden Hilfen aber offen für alle Auszubildenden aus Nordrhein-Westfalen, die Probleme in ihrer Ausbildung haben, unabhängig davon, ob sie vorher den Qualifizierungslehrgang durchlaufen haben oder nicht.

Auch die Ausbildungsbegleitenden Hilfen erfolgen kooperativ, in enger und guter Zusammenarbeit mit Ausbildungsbetrieben vor Ort und dem Rhein.-Westf. Berufskolleg. Zur Zeit bieten wir jährlich für 66 schwerhörige und gehörlose Auszubildende, deren Ausbildungsabschluss infrage gestellt ist, und für ca. 80 Ausbildungsberufe diese Maßnahme an. Dadurch können hörgeschädigte Auszubildende –wie hörende Auszubildende bei anderen Trägern seit langem schon- dieses Förderprogramm des Arbeitsamtes nutzen.
Bei den Ausbildungsbegleitenden Hilfen arbeiten beim Bildungszentrum angestellte Lehrer und Sozialarbeiter im Kleinteam zusammen. Wir haben drei dieser Kleinteams, wobei die Auszubildenden durch Förderunterricht im Bildungszentrum und durch eine regelmäßige Betreuung im Ausbildungsbetrieb unterstützt werden. So steht bei schulischen und betrieblichen Problemen stets ein Ansprechpartner zur Verfügung, der mithilft, den Ausbildungsabschluss zu schaffen.
ABH ist ein wichtiger Brückenpfeiler in dem Bemühen, dass Hörgeschädigte ihre Ausbildung nicht abbrechen müssen, sondern sie erfolgreich beenden können.
Seit einigen Jahren stellt sich vermehrt das Problem, dass hörgeschädigte Auszubildende mit Hilfe von ABH zwar den Ausbildungsabschluss schaffen, aufgrund der wirtschaftlichen Situation vom Ausbildungsbetrieb aber nicht übernommen werden. Hier kann ABH nicht mehr helfen.

Auch Auszubildende, die ihre Ausbildung in einem Berufsbildungswerk außerhalb von Nordrhein-Westfalen abgeschlossen haben und nun nach Hause zurückkehren brauchen Unterstützung bei der Stellensuche.
Darum bietet das Bildungszentrum für diese beiden Personenkreise eine halbjährige Unterstützung im direkten Anschluss an die Ausbildung an, die sogenannten Übergangshilfen. Hier haben wir 16 Teilnehmerplätze; Ziel ist die erfolgreiche Vermittlung eines neuen Arbeitsplatzes durch ein 6-monatiges Intensivcoaching.

Ein weiteres kleineres Projekt des Bildungszentrums ist das Betreute Wohnen für gehörlose und schwerhörige Essener Bürger, die in einer eigenen Wohnung wohnen, aber bei der Bewältigung des Alltags Unterstützung benötigen, zum Beispiel bei finanziellen Problemen oder beim Umgang mit Behörden oder Ärzten. Hier stehen 12 Plätze zur Verfügung.

Die gerade genannten Projekte (Qualifizierungslehrgang, Ausbildungsbegleitende Hilfen, Übergangshilfen und Betreutes Wohnen) sind alle in unserem Haupthaus in der Kerckhoffstraße 127 zu erreichen.

Nicht so zwei weitere Projekte, die sich an arbeitslose hörgeschädigte Menschen richten, das Trainingszentrum und der Lehrgang für Arbeitslose. Die finden Sie in unserem Büro in der Lichtstraße 2 am Rande der Essener Innenstadt.
Warum spezielle Maßnahmen für arbeitslose Menschen mit Hörschädigung?
Nun, unsere Erfahrung ist, dass gehörlose und stark schwerhörige Arbeitslose in Maßnahmen für hörende Arbeitslose völlig falsch aufgehoben sind. Das Bildungszentrum schließt hier seit 1997 eine Angebotslücke, so dass erwachsene gehörlose und stark schwerhörige Menschen eine Chance erhalten, die für hörende Arbeitslose seit langem selbstverständlich ist.

Die Gesamtdauer des Lehrgangs für Arbeitslose beträgt 15 Monate. Er beginnt mit einem dreimonatigen Kommunikationstraining. Überprüft und soweit wie möglich trainiert werden in dieser Phase die Motivation und die Leistungsbereitschaft der TeilnehmerInnen, ihre Eigeninitiative und ihr Durchhaltevermögen. Arbeitstugenden wie Pünktlichkeit, Ordnung, Zuverlässigkeit und Ehrlichkeit werden bewusst gemacht und eingeübt. In einer anschließenden zwölfmonatigen berufspraktischen Integrationsmaßnahme sammeln die TeilnehmerInnen in einem Betrieb an ihrem Wohnort weitere praktische Erfahrungen in ihrem erlernten Beruf oder in einem neuen, besser geeignet erscheinenden Tätigkeitsbereich. Im Verlauf dieser zwölf Monate können die LehrgangsteilnehmerInnen lernen, die Belastungen des Arbeitsalltages und den Umgang mit hörenden Kollegen auszuhalten. Das erforderliche theoretische Wissen wird einmal wöchentlich im Bildungszentrum in Essen vermittelt.
Umgangssprache im Verlauf dieser Maßnahme ist die Deutsche Gebärdensprache. In der theoretischen Unterweisung können die TeilnehmerInnen durch die Kooperation gehörloser und hörender Dozenten erkennen, dass diese Zusammenarbeit durchaus möglich ist und dass durch die Hörbehinderung bedingte Probleme gelöst werden können.
Nach Abschluss des Lehrgangs für Arbeitslose wird eine Übernahme in ein festes Beschäftigungsverhältnis angestrebt. Bei den bisher vier durchgeführten Lehrgängen konnten immer mindestens 10 der 12 Teilnehmer das Ziel erreichen, beim letzten Lehrgang haben wir sogar eine 100%ige Vermittlungsquote erreichen können.

Da der Bedarf die Platzzahl im Lehrgang für Arbeitslose um ein vielfaches übersteigt, bietet das Bildungszentrum seit dem letzten Jahr neben dem Lehrgang auch das Trainingszentrum für Arbeitslose an.
Das Trainingszentrum wird in Modulform durchgeführt und dauert individuell bis zu 12 Wochen. Angeboten werden Sprachtraining mit Gebärdensprache, Berufseignungstests für Hörgeschädigte, Berufskundliche Informationen, Hilfe bei Bewerbungen und eine betreute Stellenrecherche.

Soviel zu den Angeboten des Bildungszentrums an Brücken in die Arbeitswelt, die von einer Unterstützung beim ersten Einstieg in einen Betrieb über Ausbildungsbegleitung bis hin zum Wiedereinstieg bei Arbeitslosigkeit reichen.

Nun wird es aber Zeit, und ich hoffe, Ihre Kondition lässt dies noch zu, in einem zweiten, nicht so umfangreichen, aber nicht unwichtigen Teil etwas von unseren Erfahrungen zu berichten.
Das Bildungszentrum arbeitet nicht mit „dem Gehörlosen oder Schwerhörigen schlechthin“ zusammen, sondern mit einer speziellen, zahlenmäßig aber nicht unbedeutenden Gruppe von schwerhörigen und gehörlosen Jugendlichen. Unsere Erfahrungen beziehen sich auf ca. 750 junge Erwachsene, die wir in den letzten 16 Jahren kennen gelernt haben, fast alle zwischen 18 und 22 Jahre alt.
Die „Erfolgszahlen“ der Übernahmen legen vielleicht den Schluss nahe, alles laufe bestens und sei paletti. Dem ist aber überhaupt nicht so.
Hier einige Beispiele, die mir bei der Zusammenstellung dieses Vortrages eingefallen sind, Beispiele beinahe typischen Verhaltens, Beispiele, wie schlecht vorbereitet die Jugendlichen der Betriebswelt gegenübertreten:

  • Im Berufsberatungsgespräch im Arbeitsamt zeigt sich, dass wichtige Informationen fehlen. Was ist der Unterschied zwischen einer betrieblichen Ausbildung und einer Ausbildung im Berufsbildungswerk? Eine so wichtige Entscheidung wie die des Berufsweges sollte nicht davon abhängig sein, welche Bilder in Informationsfaltblättchen von Berufsbildungswerken schöner sind oder dass ein Freund sagt, dass die Schwerhörigen da im Zimmer ihr Radio nicht auf „volle Pulle“ stellen dürfen und deshalb eine Ausbildung dort sowieso nicht infrage kommt.
  • „Unsere Jugendlichen“ sind unzureichend auf Vorstellungsgespräche vorbereitet und wissen um deren Bedeutung zu wenig. Im Trainingsanzug sollte man nicht erscheinen, auch mal die Hände aus den Hosentaschen bekommen und eine interessierte Haltung einnehmen. Vor allem aber darauf vorbereitet sein, dass der Malermeister im Vorstellungsgespräch sicher die Frage stellt, warum man gerade Maler werden will, und nicht davon völlig überrascht werden und nur schweigen können.
  • Oft fehlen Informationen über betriebliche Regularien. Was ist gleitende Arbeitszeit? Bestimmt nicht: Morgens innerhalb der zulässigen Zeit zu kommen, aber schon dann nach Hause zu gehen, wenn die ersten Kollegen Feierabend machen.
  • Wieso muss Urlaub angemeldet werden? Wer seinen Urlaub nicht frühzeitig beim Chef anmeldet, muss damit rechnen, dass er den Urlaub nicht zur gewünschten Zeit nehmen kann. Die Arbeit fallen zu lassen, zur Chefin „Du spinnst wohl“ zu sagen und nach Hause zu gehen, ist dann nicht die beste Reaktion.
  • Informationen zu Hierarchien im Betrieb sind wichtig. Wer hat im Betrieb etwas zu sagen? Sich ausschließlich vom Chef etwas sagen zu lassen und kategorisch abzuwinken, wenn der Vorarbeiter oder die Frau des Chefs eine Arbeitsanweisung geben ist in Kleinbetrieben oder Familienunternehmen das falsche Verhalten und führt nicht zum Erfolg im Beruf.
  • Neben den Informationen über Hierarchien muss auch das Nähe-Distanz-Verhalten stimmen. Der hörende Chef hat es nicht gerne, wenn ihn der Praktikant ständig auf die Schulter klopft und ihn duzt.
  • Oft fehlen der Mut und das Selbstbewusstsein, um nachzufragen. Bei der Anweisung der Küchenleiterin, ein Kuchenrezept schichtweise auszurichten bekundet die Lehrgangsteilnehmerin mehrfach, alles verstanden zu haben. Die Küchenleiterin ist nicht begeistert gewesen, als sich herausgestellt hat, dass die Lehrgangsteilnehmerin alle Zutaten durcheinandergerührt hat. Nur ein Beispiel von sooo vielen.
  • Nachfragen und eigeninitiativ sein sollte man im Betrieb auch, wenn ein Arbeitsauftrag erledigt ist und nicht zwei Stunden herumstehen und warten, ob der Chef noch mal vorbeikommt und sagt, was jetzt zu tun ist.
  • Bei „unseren Jugendlichen“ sind kaum Lerntechniken vorhanden. Wie merkt man sich, was man schon einmal gelernt hat, um es wieder abrufen zu können ? (z.B. Aktenordner anlegen oder Zettelkasten)
  • Auch Arbeitstechniken werden nicht beherrscht. Wie gehe ich mit einem Buch um? Was ist ein Stichwortverzeichnis?
  • Es fehlen grundlegende Informationen über und Erfahrungen mit dem Einsatz von Gebärdensprachdolmetschern. Was ist eine Gebärdensprachdolmetscherin? Was ist ihre Aufgabe, was tut sie und was darf sie nicht? Wie organisiert man eine Gebärdensprachdolmetscherin? Wer trägt die Kosten? Bis hin zu Detailfragen: Wer stellt die Dolmetscherin z.B. im Vorstellungsgespräch den Gesprächspartnern vor?
  • Und auch: Im Arbeitsalltag muss man konfliktfähig sein können. Wie reagieren bei der „Anfrage“ des Chefs auf Samstagsarbeit, wo doch eigentlich das Tischtennisturnier wartet? Gibt es Kompromissmöglichkeiten? „Unsere Jugendlichen“ sind mit Rollenspielen nicht vertraut, sie haben nicht gelernt, sich auch einmal in den Gegenüber hineinzuversetzen, Interessen auszuloten, Konflikte auszuhalten, sie reagieren in der Regel über, brechen in Tränen aus, schließen sich auf dem Betriebsklo ein, rennen nach Hause, nur konstruktiv umgehen mit Interessenskonflikten können sie kaum. Aber dies ist im Betrieb alles gefragt, um Erfolg im Beruf zu haben. Die Erfahrungen mit den TeilnehmerInnen unserer Maßnahmen sind also (auch) nachhaltig erschreckend.
  • Ihr aktiver und passiver Wortschatz in der deutschen Lautsprache und in der deutschen Gebärdensprache ist oft bruchstückhaft, auch Schriftsprache ist kaum vorhanden, so dass viele Worte gar nicht bekannt sind und auch schriftliche Arbeitsanweisungen nicht ohne weiteres verstanden werden. Es sind Bildungslücken feststellbar, die dem Grundschulstoff zuzurechnen sind. Sinnzusammenhänge sind unbekannt, die TeilnehmerInnen bejahen oft lediglich vorschnell nicht verstandene Erklärungen.
  • Außerdem mangelt es an sozial-kommunikativen Kompetenzen, es fehlt an Eigeninitiative, die TeilnehmerInnen fragen nicht nach und lassen nicht erkennen, wie viel sie verstanden haben. Missverständnisse sind so vorprogrammiert. Der junge Erwachsene hat nicht gelernt, Probleme in der Entstehung zu erkennen und angemessen auf eine betriebliche Situation zu reagieren. Später erfolgen Überreaktionen, die TeilnehmerInnen reagieren – wie ich Ihnen ja auch in den Beispielen dargestellt habe – bockig oder ziehen sich zurück. Nur sich mit der Situation konstruktiv auseinander zu setzen, das haben sie nicht gelernt. Hinzu kommt, dass sie wenig wissen über den Arbeitsalltag und betriebliche Strukturen. Im Betrieb wird aber erwartet, dass auch hörgeschädigte Menschen grundlegende Kenntnisse über den Arbeitsalltag haben, aus ihrer passiven Rolle heraustreten, Probleme erkennen, eigene Gefühle angemessen ausdrücken können und auch selbst die Initiative ergreifen.
  • Dazu ist auch die Auseinandersetzung mit der eigenen Hörschädigung zwingende Voraussetzung. Hörgeschädigte ArbeitnehmerInnen arbeiten überwiegend mit hörenden Kollegen zusammen. Sie müssen mit den Auswirkungen ihres mehr oder weniger stark eingeschränkten Hörvermögens umgehen können. Dazu müssen sie sich dieser Auswirkungen aber zuerst einmal bewusst sein. Sie müssen über kommunikationstaktische Strategien verfügen, um Missverständnisse soweit wie möglich einzugrenzen, um Anweisungen zu verstehen oder Arbeitsabsprachen zu treffen. Dazu müssen sie einschätzen können, was sie verstanden haben, sie sollten gezielt nachfragen und den Kollegen sagen, was diese zu einer besseren Verständigung tun können. Das bedeutet, (auch) der Hörgeschädigte muss Verantwortung für die Kommunikation übernehmen und auf seine Bedürfnisse angemessen aufmerksam machen können.

Von all dem sind die TeilnehmerInnen, die wir kennen lernen, leider noch weit entfernt.
Warum konnten die Jugendlichen nicht früher schon in viel größerem Umfang lernen sich auseinander zu setzen, mit sich und den anderen?
Mein letzter Hinweis heute soll sein, dass das Bildungszentrum auch mitwirkt, diese Situation im Vorfeld, an den abgebenden Schulen zu verändern.
Dies tun wir und zwar durch das von 1997 bis 2000 durchgeführte Projekt Überblick – Verbesserung des Übergangs von der Schule in das Arbeitsleben und das zur Zeit laufende, von 2001 bis 2003 bewilligte Folgeprojekt Koordinationsbüro Überblick.
In Anbetracht dessen, dass ich Ihnen durch diesen Vortrag schon viele Informationen gegeben habe und ich zum Ende kommen sollte, möchte ich Ihnen nur ein paar kurze Hinweise zum „Überblick“ geben. Die Erfahrungen dieses Projektes sind hochinteressant und würden eine eigene KOFO-Veranstaltung füllen. Vielleicht ergibt sich ja bei einem beiderseitigen Interesse die Gelegenheit eines eigenen KOFO-Abends im nächsten Jahr für Anne Gelhardt, die diesen Arbeitsbereich im Bildungszentrum leitet, und ihr Team.

Im Projekt Überblick wurde unter Mitwirkung eines gehörlosen und schwerhörigen Dozententeams an der Rhein.- Westf. Realschule in Dortmund ein Konzept zur Berufsorientierung und Vorbereitung auf das Arbeitsleben modellhaft entwickelt und in den Klassen 9 und 10 durchgeführt.
Die Unterrichtsmodule beinhalten folgende Themenschwerpunkte:

Auseinandersetzung mit der Hörbehinderung, Vorbereitung und Begleitung der Berufswahlentscheidung, Bereitung und Nachbereitung der Schulpraktika, Bewerbungstrainings, Informationen zu Arbeitsalltag und Betriebsstrukturen, Auswertung und Bearbeitung der ersten Erfahrungen im Arbeitsleben.
Außerdem wurde eine Befragung durchgeführt zum gegenwärtigen Stand der schulischen Vorbereitung auf das Arbeitsleben in den Hauptschulen für Gehörlose und Schwerhörige in Nordrhein-Westfalen.

Im Projekt Koordinationsbüro Überblick geht es derzeit um die Übertragbarkeit des modellhaften Konzeptes für den Einsatz an den Schulen für Gehörlose und Schwerhörige in Nordrhein–Westfalen.
Schwerpunkte der Arbeit hier sind:
Die Beratung, Information und Vernetzung aller am Übergang Schule- Beruf Beteiligten (Ausbilder in Betrieben, Ausbildungsberater, Lehrer, Mitarbeiter des Arbeitsamtes),
die Initiierung von Strukturen für den regionalen und überregionalen Austausch durch Schaffung regionaler Arbeitskreise und Einrichtung eines überregionalen Lehrerarbeitskreis zum Thema Berufsvorbereitung,
die Unterstützung beim Aufbau von Koordinatorenteams in den Schulen und von Schulpatenschaften mit Betrieben sowie das Angebot von speziellen Unterrichtseinheiten (zum Beispiel zum Thema Auseinandersetzung mit der Hörschädigung).
Wir setzen sehr darauf, dass durch das Projekt Überblick neue Voraussetzungen geschaffen werden, damit schwerhörige und gehörlose junge Erwachsene weniger Schwierigkeiten und mehr Erfolg im Beruf haben können.
Das Projekt Überblick hat die Ergebnisse der Arbeit von 1997 bis 2000 in einer Dokumentation zusammengefasst.
Diese Dokumentation habe ich Ihnen als Ansichtsexemplare mitgebracht, bei Interesse senden wir Sie Ihnen gegen Erstattung der Portokosten gerne zu.

Außerdem möchte ich gern im Publikum unsere Selbstdarstellung „Brücken in die Arbeitswelt“ verteilen, die ich in vierzig Exemplaren mitgebracht habe und in der unsere Projekte mit allen AnsprechpartnerInnen dargestellt sind.

Sehr geehrte Damen und Herren,
das Team der MitarbeiterInnen und Mitarbeiter des Bildungszentrums ist in der überwiegenden Mehrzahl seit vielen Jahren dabei.

Wir machen diese Arbeit gerne und – bei allen beschriebenen Problemen -: Wenn uns ehemalige TeilnehmerInnen nach Jahren einmal wieder besuchen, ist es einfach toll zu sehen, wie sie sich durch einen festen Arbeitsplatz, durch Erfolg im Beruf verändert haben.
Jeder hörgeschädigte junge Erwachsene, dem eine Brücke in die Arbeitswelt gebaut werden kann, bedeutet weniger Arbeitslosigkeit, weniger Sozialhilfe und mehr soziale Integration.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

andreas mügge bildungszentrum für hörgeschädigte essen e.v. 10/2002

Brücken in die Arbeitswelt

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