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Suchtberatung für Gehörlose

by ulbricht
Kofo Essen, 10.04.2002

Suchtberatung für Gehörlose

Referent: Thomas Kreklau
(Suchtberatungsstelle für Gehörlose im Zentrum für Gehörlosenkultur e.V., Dortmund)

Thomas Kreklau (Diplom-Sozialarbeiter) arbeitet seit 7 Jahren in der Suchtberatung für Gehörlose. Diese Beratungsstelle bietet neben einer weiteren Beratungsstelle in Leipzig die einzige Möglichkeit für Gehörlose, Hilfen bei Abhängigkeit zu bekommen.

Suchtberatung für Gehörlose
1. Was bedeutet „Sucht“ ?

Sucht bedeutet das Verlangen nach ständiger Einnahme eines Stoffes. Man möchte damit ein bestimmtes Lustgefühl erreichen. Zuerst gewöhnt man sich an den Stoff, dann wird man süchtig = abhängig. Sucht bedeutet auch: Unfreiheit. Der Betroffene kann nicht mehr frei entscheiden, ob und wie viel er nehmen will. Er ist abhängig. Es gibt körperliche (physische) und seelische (psychische) Abhängigkeit.

2. Was kann alles „süchtig“ machen ? Suchtmittel und Zahlen

Es gibt sehr viele Mittel, die süchtig machen können (die Zahlen beziehen sich auf Deutschland):

Zigaretten:18 Mio. Raucher; Ausgaben für Tabakwaren: 41,2 Mrd. DM/Jahr; jährlich sterben 111.000 Menschen an den Folgen: Krebs, Atemwegs- und Kreislauferkrankungen.

Alkohol: Konsum pro Kopf 1997: 131 l Bier, 18,1 l Wein, 4,9 l Sekt, 6,1 l Schnaps; 2,5 Mio. Menschen sind alkoholkrank, jährlich sterben 42.000 Menschen an den Folgen; die Kosten für die Therapie von Alkoholkrankheiten: 20 Mrd. Euro/Jahr.
Jedes Jahr werden 2000 Kinder mit Alkohol-Schädigungen geboren.

Drogen (z.B. Cannabis=Haschisch/Marihuana, Heroin, Kokain, Speed…):
250.000 – 300.000 Personen nehmen „harte“ Drogen (Heroin, Kokain…). 1998 starben 1674 Menschen an den Folgen des Drogenkonsums.
270.000 Menschen rauchen regelmäßig Cannabis, 2 Mio. Menschen rauchen ab und zu Cannabis.

Medikamente: Ca. 1,2 Mio. Menschen sind tablettenabhängig.

Glücksspiele: 25.000 – 130.000 Menschen sind krankhafte Glücksspieler.

Fernsehen, Sport, Kaufen, Internet, Sex… Auch das können Suchtmittel sein.

3. Warum nehmen wir Drogen ? Wie entsteht Sucht ?

Alle kennen den Wunsch nach Gemütlichkeit und Genuss. Deshalb trinken viele ein Glas Wein. Oder man möchte auf Feiern gesellig sein und mittrinken.
Gefährlich wird es, wenn man Probleme vergessen oder verdrängen will.
Dann bringt das Suchtmittel Erleichterung, Entlastung, vielleicht auch ein Hochgefühl.
Man gewöhnt sich an das Suchtmittel und muss immer mehr davon nehmen, um die gleiche Wirkung zu spüren. Später merkt man: Man kann nicht mehr frei entscheiden, wie viel man nimmt. Man ist abhängig.

Sucht hat immer mehrere Ursachen:
Jugendliche suchen nach Identität, sie probieren vieles aus und überschätzen sich („ich kann schon damit umgehen, ich werde schon nicht süchtig“).
Man möchte unangenehme Gefühle (Angst, Wut, Scham, Langeweile, Einsamkeit) unterdrücken.
Gruppendruck: Man möchte mithalten mit Kollegen oder Vereinskameraden
Kindheitserfahrungen: Die Eltern haben auch getrunken.
Bedrohliche Ereignisse: Arbeitslosigkeit, Geldnot, Schulprobleme, Schwierigkeiten in der Familie.

4. Welche verschiedenen Drogen gibt es ?

Legale Drogen: Diese Drogen sind erlaubt. Man darf sie konsumieren (selbst einnehmen), besitzen, herstellen und weitergeben (verkaufen). Sie können bei Missbrauch auch große Schäden verursachen und süchtig machen .

Illegale Drogen: Diese Drogen sind nicht erlaubt. Man darf sie nicht besitzen, nicht herstellen oder weitergeben (verkaufen). Der Konsum ist nicht verboten.

Alkohol (legal)
Wirkung: Wenn man wenig Alkohol trinkt, wird man kontaktfreudiger und fühlt sich besser. Wenn man zu viel Alkohol trinkt, kann man schlechter reagieren, man verliert Hemmungen, man kann aggressiv werden.
Gefahren: psychische und physische Abhängigkeit, Schädigungen innerer Organe und des Gehirns, Persönlichkeitsveränderung, später auch Verwirrtheit (Wahnvorstellungen).

Tabak (legal)
Wirkung: Anregung der Hirntätigkeit, kann für kurze Zeit Müdigkeit und Unlust beseitigen
Gefahren: psychische und physische Abhängigkeit, Verengung und Verkalkung der Blutgefäße ( Raucherbein, Herzinfarkt), die Lunge kann sich nicht mehr selbst reinigen (chronische Bronchitis, Krebs).

Medikamente (legal)
Wirkung: Schmerzmittel beseitigen Schmerzen und geben ein angenehmes Körpergefühl; Schlafmittel lösen Anspannungen und beruhigen. Aufputschmittel machen aktiver und geben ein angenehmes Gefühl.
Wenn man diese Medikamente zu oft und in zu hohen Dosen nimmt, dann haben diese Mittel nicht mehr die gewünschte Wirkung. Man muss dann immer mehr nehmen.
Gefahren: psychische und physische Abhängigkeit, Organschädigungen, Vergiftung.

Cannabis = Haschisch, Marihuana (illegal)
Wirkung: unterschiedlich, abhängig von der Grundstimmung. Manchmal gute Gefühle, manchmal Angstgefühle. Farben und Töne können intensiver sein.
Gefahren: psychische Abhängigkeit. Bei längerem Gebrauch: weniger Konzentrations- und Leistungsfähigkeit, Antriebslosigkeit, Depressionen, Verständigungsprobleme. Evtl. auch Auslöser für Psychosen (Störungen im Erleben und in der Wahrnehmung, z.B. Wahnvorstellungen, Angstzustände).

Opiate = Heroin, Morphium (illegal)
Wirkung: stark betäubend und beruhigend, Hochgefühl.
Gefahren: schnelle psychische und physische Abhängigkeit, Hepatitis und Aids (Weitergabe von Spritzen), Leberschäden, Geldbeschaffungs-Probleme (Diebstahl, Prostitution), Tod bei Überdosierung oder giftigen Beimischungen.

Kokain (illegal)
Wirkung: betäubt die Nervenzellen, Hochgefühl, Halluzinationen (Veränderung der Wahrnehmung), Verlust von Hemmungen, nach dem Hochgefühl folgt ein Tief mit schlechter Laune und Müdigkeit.
Gefahren: hohe psychische Abhängigkeit. Depressionen, Verfolgungswahn, Tod bei Überdosierung.

Halluzinogene = LSD (illegal)
Wirkung: Halluzinationen, intensive Gefühle, unterschiedliche Gefühle: farbenprächtige Phantasiewelt bis zu Angst- und Horrorgefühlen.
Gefahren: psychische Abhängigkeit, Unterschätzen von Gefahren, Jahre später sind noch „flash-backs“ möglich (Wiedererleben von Halluzinationen), Auslöser von Psychosen.

Amphetamine (Aufputschmittel, Speed), Designerdrogen (Ecstasy) (illegal)
Wirkung: anregend, vorübergehende Leistungssteigerung, Hochgefühle
Die Wirkung bei Designerdrogen ist unterschiedlich, weil sie immer neue Inhaltsstoffe enthalten.
Gefahren: psychische Abhängigkeit, Schlaflosigkeit, Unruhe, Wahnvorstellungen, Psychosen, Vergiftung.

Flüchtige Lösungsmittel (Klebstoffe, Lacke…)
Wirkung: kurzer Rausch, Hochstimmung.
Gefahren: psychische Abhängigkeit, Verbrennung und Verätzung der Atemwege (beim „Schnüffeln“), Lähmungen, Organschäden, Demenz (Verblödung), Tod bei Überdosierung.

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5. Die Droge Alkohol

Alkohol ist die älteste und verbreitetste Droge. Es gibt ägyptische Dokumente aus dem 3. Jahrhundert v.Chr.: Schon damals hat man gewusst, wie man Wein anbaut und alkoholische Getränke herstellt. Im Mittelalter hat man Bier als Nahrungsmittel benutzt, auch Kinder bekamen oft Biersuppe. Damals konnte man aber nur Alkohol mit wenig Prozenten herstellen. Die Araber haben eine Technik zur Alkoholgewinnung erfunden. Das Wort „Alkohol“ kommt aus dem Arabischen.

Das Gefährliche am Alkohol ist: Alkohol ist in der Gesellschaft akzeptiert. Man kann sich ein Leben ohne Alkohol schlecht vorstellen.

(Leider musste der Referent hier seinen Vortrag abkürzen, weil die Zeit schon zu weit fortschritten war; er verzichtete also auf die Erklärung des Unterschieds: Gebrauch, Missbrauch, Abhängigkeit, auf die Unterscheidung der Haupttypen von Alkoholkranken und auf die Folgen des Alkoholmissbrauchs.)

6. Die Arbeit der Suchtberatungsstelle für Gehörlose in Dortmund

Sie ist die einzige Suchtberatungsstelle für Gehörlose in Westdeutschland. Das Einzugsgebiet ist NRW. Die Beratungsstelle wurde 1986 gegründet und berät bei allen Formen von Sucht.
2 gebärdensprachkundige MitarbeiterInnen arbeiten hier.
Das Angebot umfasst: Beratung, Betreuung (auch über einen längeren Zeitraum), Vermittlung, Nachsorge, offene Gesprächsgruppen, Freizeitmaßnahmen.
Man kann davon ausgehen, dass ca. 800 gl Menschen in NRW suchtkrank sind.
Zur Zeit besuchen 70 Personen regelmäßig die Beratungsstelle.
Die Betroffenen kommen selten aus eigenem Antrieb, meistens werden sie geschickt vom Arbeitgeber, von Freunden oder Verwandten.
Nach einem ersten Beratungsgespräch wird vereinbart, was notwendig ist. Bei schweren Problemen muss zuerst eine stationäre Entgiftung und Entzug gemacht werden. Das dauert 2 – 6 Monate. Danach können die Klienten eine Nachsorgeberatung bekommen. Es gibt dafür eine Nachsorgegruppe und eine Selbsthilfegruppe. Die Gruppen treffen sich regelmäßig alle 2 Wochen. Es gibt auch Freizeitangebote, z.B. eine Kanufahrt oder jetzt eine Fahrt nach Dresden. Die Betroffenen lernen, ohne Drogen ihre Freizeit zu gestalten.
Es kann auch zu Rückfällen kommen. Wichtig ist, dass die Betroffenen lernen: Nach einem Rückfall bricht nicht die ganze Welt zusammen, die meisten Abhängigen haben Rückfälle.

Suchtberatung für Gehörlose
Suchtberatung für Gehörlose

Frage: Warum unterscheidet das Betäubungsmittelgesetz legale und illegale Drogen? Legale Drogen können doch auch stark abhängig machen.
Antwort: Legale Drogen – wie Alkohol – sind in unserer Kultur verankert. Sie können aber auch abhängig machen.
Bei Heroin stimmt es: Es ist eine gefährliche Droge mit starker Suchtgefahr. Cannabis ist vielleicht deshalb illegal, weil es eine „junge“ Droge ist.
Bei allen Drogen besteht die Gefahr der Abhängigkeit.

Frage: Machen Sie auch „aufsuchende Arbeit“ (Besuch bei den Betroffenen zu Hause)?
Antwort: Ja, z.B. bei Rückfallgefahr.
Die weiten Wege sind ein großes Problem. Für Hörende gibt es in jeder Stadt eine Beratungsstelle. Die Betroffenen haben kurze Wege. Gehörlose müssen Fahrtzeiten bis 2 Stunden in Kauf nehmen. Das ist besonders bei Berufstätigen eine Schwierigkeit.

Frage: Kann man auch schwerhörige und spätertaubte Menschen in die Gruppen schicken ? Wie sieht es mit der Verständigung aus ?
Antwort: Wir beraten auch schwerhörige und ertaubte Menschen. In der Selbsthilfegruppe sind allerdings nur Schwerhörige, die auch gebärden können.
Für Schwerhörige und Ertaubte ohne Gebärdensprachkenntnisse können wir zur Zeit noch keine Gruppe anbieten.

Frage: Können Sie und Ihre Mitarbeiter die Gebärdensprache oder brauchen Sie Dolmetscher ?
Antwort: Wir können DGS und arbeiten ohne Dolmetscher. Ein Beratungsgespräch mit Dolmetscher kann sehr problematisch werden.

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Frage: Nur 2 Beratungsstellen für Gehörlose in Deutschland – das ist doch zu wenig. Alkoholkranke außerhalb Ihres Einzugsbereiches bekommen keine Hilfe.
Antwort: Ja. Man braucht viel mehr Beratungsstellen. Die Politiker sagen: Gehörlose können als Behinderte einen Dolmetscher bestellen und in eine normale Beratungsstelle gehen. Sie sehen nicht, dass es bei der Kommunikation Grenzen gibt. Die Träger wollen aus Kostengründen keine neuen Beratungsstellen mehr einrichten. Wir haben auch Zukunftsängste. Es gibt keine gesetzliche Grundlage, eine Beratungsstelle für Gehörlose einzurichten. Das ist schade und traurig.

Frage: Wie viele gehörlose Alkoholkranke gibt es in Deutschland ?
Antwort: Es gibt keine Statistik darüber. Die Statistik über Sucht wird von der Deutschen Hauptstelle für Suchtgefahren herausgegeben. Alle Suchtstellen geben dort ihre Zahlen an. Für Gehörlose gibt es aber zu wenig Beratungsstellen, also keine genauen Zahlen. Man muss schätzen.

Frage: Welche Qualifikationen besitzen Sie und Ihre Kollegin ?
Antwort: Meine Kollegin ist Diplom-Sozialarbeiterin und hat eine Zusatzausbildung als Soziotherapeutin. Ich selbst bin Diplom-Sozialarbeiter und würde gerne eine Zusatzausbildung machen. Sie ist sehr teuer und dauert 2 Jahre. Mein Arbeitgeber kann mich dabei nicht finanziell unterstützen. Die Mittel werden immer weiter gekürzt.
HU

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