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Podiumsdiskussion zur Bundestagswahl

by ulbricht
Kofo Essen, 11.09.2002

Podiumsdiskussion zur Bundestagswahl

Die Vorbereitung

Podiumsdiskussionen vor Bundestagswahlen sind Tradition für das Essener Kofo. Auch 1990 und 1998 wurden Politiker geladen, die mehr oder (meistens) weniger erfolgreich versuchten, unsere Fragen zu beantworten.

Podiumsdiskussion zur Bundestagswahl
Mittlerweile hat sich das Kofo-Mitarbeiterteam erweitert: Wir sind froh, dass nun auch der Ortsverein des DSB und die Schwerhörigenjugend mitarbeiten. Ebenso das Berufskolleg, das Bildungszentrum und die Evangelische Seelsorge für Gehörlose und Schwerhörige. Auch unser Kommunikationsziel haben wir höher gesteckt: Wir wollen auf den Kofo-Veranstaltungen eine barrierefreie Kommunikation für alle erreichen und haben deshalb neben GebärdensprachdolmetscherInnen auch SchreibdolmetscherInnen im Einsatz. Für eine Podiumsdiskussion bedeutet das eine intensive Vorbereitung. Das Internat für Hörgeschädigte hatte die Koordination übernommen und vorbildliche Arbeit geleistet. Schon lange vor den Sommerferien haben sich 3 Arbeitsgruppen gebildet, die jeweils einen Themenbereich vorbereiteten. Ganz wichtig war auch die aktive Mitarbeit von hörgeschädigten SchülerInnen und Auszubildenden.

1. Thema: „Verbesserung der Ausbildungssituation von Gehörlosen und Schwerhörigen“
Eine Gruppe mit Azubis, Mitarbeitern aus Bildungszentrum, Integrationsfachdienst und Internat begann ihre Arbeit mit einer Umfrage unter hörgeschädigten Azubis. Sie erstellten detaillierte Fragen zur Schaffung von Ausbildungsplätzen, zur Vorbereitung der Arbeitsaufnahme, zur Verbesserung der schulischen Ausbildung, zur Fort- und Weiterbildung. Auch die Situation hg Studenten wurde aufgegriffen.

2. Thema: „Behindertengleichstellungsgesetz 2002 und die Folgen“
Schüler der gymnasialen Oberstufe bereiteten dieses Thema mit Unterstützung der Lehrer vor. Sie erarbeiteten ein Statement und Fragen zu diesem Themenbereich. Das Behindertengleichstellungsgesetz wird begrüßt, aber die Umsetzung hinterfragt. Wie sieht es mit der Barrierefreiheit für Hörgeschädigte aus ? Warum ist das Anti-Diskriminierungsgesetz noch nicht verabschiedet ?

3. Thema: „Forderungen von Gehörlosen, Schwerhörigen und Ertaubten an die Politik“
Diesen Themenbereich übernahm der DSB Ortsverein Essen. Die Wahlprüfsteine des DSB zur Bundestagswahl enthalten Forderungen zur Hörgeräteversorgung, zur Untertitelung, zur Umsetzung der Barrierefreiheit, zur ehrenamtlichen Arbeit und Selbsthilfeförderung und zur Gesundheitspolitik.

Die Podiumsdiskussion

Bereits ab 18 Uhr kamen die ersten Besucher. Um 19 Uhr war die Mensa des Internats mit 200 Gästen rappelvoll. Zusätzliche Stühle mussten aufgestellt werden. Wir konnten auch prominente Besucher begrüßen: Jochen Muhs (gl, im Vorstand des Vereins Kultur und Geschichte Gehörloser) und Marcel Karthäuser (sh, Bundesgeschäftsführer des DSB) waren beide aus Berlin angereist. Moderator Wolfgang Kleinöder gab nach einer kurzen Begrüßung das Mikrofon an den Internatsleiter Klaus Döring. Dieser erinnerte an die noch immer unfassbaren Terroranschläge vor einem Jahr in New York. In seiner kurzen Ansprache betonte er, dass nur durch gegenseitiges Verständnis und Miteinander ein solcher Hass vermieden werden kann. Anschließend bat er, in einer Schweigeminute der Opfer zu gedenken.

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Die Podiumsdiskussion begann mit einer Vorstellungsrunde der Politiker:

Vera Etterich (Bündnis 90/die Grünen) musste überraschend für Thomas Rommelspacher einspringen und war deshalb auf das Thema schlecht vorbereitet.

Auch für Thomas Kufen (CDU) ist das Thema Neuland.

Dirk Overhoff (PDS) kennt behinderte und gehörlose Personen in seinem Bekanntenkreis, Parteipolitiker ist er erst seit einem Jahr.

Christian Müller (FDP) ist auch kein Fachmann für Behindertenpolitik, möchte in dieser Veranstaltung selbst etwas lernen.

Britta Altenkamp (SPD) ist im Landtag zuständig für Migrationsangelegenheiten (Probleme der Einwanderer), Behindertenpolitik ist für sie ebenfalls Neuland.

Nach dieser kurzen Vorstellung war schon klar, wo die „Experten“ zu finden sind: auf der Seite der Fragesteller.

Das zeigte sich besonders krass in der Diskussionsrunde zum 1. Thema. Auf dem Podium saßen Sabine Schlüss (Integrationsfachdienst),
Thomas Notthoff (Azubi, gl), Felix Blomendahl (Soz.päd. im Anerkennungsjahr, sh)

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von links nach rechts: Felix Blomendahl, Thomas Notthoff, Sabine Schlüss, Moderator Wolfgang Kleinöder
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1. Gebärdensprachpoesie von Rafael Grombelka

Konkrete Vorschläge zur Verbesserung der Ausbildungssituation konnte kein Politiker machen. Zur Entschuldigung meinte Thomas Kufen (CDU): Jeden Tag bekommt er viele Papiere von Interessensgruppen, aber kaum von Hörgeschädigten. Diese Gruppe ist zu „leise“.
Dirk Overhoff (PDS) forderte: Während Ausbildung und Studium müssen Hörhilfen und Dolmetscher kostenfrei sein, der Staat muss Ausbildung besser fördern, das Antidiskriminierungsgesetz muss durch.
Christian Müller (FDP) wollte das Sozialsystem umgestalten (wer mehr verdient, soll mehr zahlen).
Vera Etterich (Grüne) bat um Nachsicht: Das Gleichstellungsgesetz ist noch neu, es muss erst mal bei allen ankommen.
Britta Altenkamp (SPD) meinte: Es gibt in NRW schon relativ viele Fördermöglichkeiten.
Fachwissen konnten die Politiker zu diesem Thema kaum vortragen, obwohl sie rechtzeitig mit Thesenpapieren versorgt waren. Niemand erwartet von Politikern, dass sie sich auf allen Gebieten gut auskennen. Aber sie hätten sich etwas besser informieren können.
Eine willkommene Abwechslung bot der erste Kulturbeitrag: die Gebärdensprachpoesie von Rafael Grombelka, einem Schüler des Berufskollegs.

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von links nach rechts: Gert Hommel, Stephan Hambach, Marcus Tonat, Moderator Wolfgang Kleinöder
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Die Brüder Lars und Rafael Grombelka haben eine tolle Gebärdensprachpoesie gezeigt.

In der zweiten Diskussionsrunde saßen Stephan Hambach, Marcus Tonat (beide Schüler der gymnasialen Oberstufe, gl) und Gert Hommel (Lehrer am Berufskolleg, gl) auf dem Podium.

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2. Gebärdensprachpoesie von Lars Grombelka
Langer Beifall für Lars

Das Behindertengleichstellungsgesetz wurde erst im Mai verabschiedet und so war es auch den anwesenden Politikern bekannt.
Aber auch hier gab es wenig fachkundigen Antworten auf die konkreten Fragen der Arbeitsgruppe. Teilweise wurden Behauptungen aufgestellt, die schlicht und einfach falsch waren (z.B. dass das Anti-Diskriminierungsgesetz zurückgezogen wurde, weil nachrangige Behörden mit der Umsetzung nicht klarkommen) oder sie zeigten das Nichtwissen über die Situation Hörgeschädigter: Gehörlose wurden aufgefordert, doch einfach mal in Parteiversammlungen zu kommen und ihren Dolmetscher mitzubringen.
Es gab aber auch richtige Hinweise. So wies Thomas Kufen darauf hin, dass die Zielvereinbarungen im Behindertengleichstellungsgesetz wichtig sind. Jeder Verein kann jetzt mit privaten Firmen oder kommunalen Einrichtungen Vereinbarungen treffen. Man darf also nicht nur auf Gesetzesänderungen warten, sondern muss selbst aktiv werden.
Vera Etterich stellte richtig, dass das Antidiskriminierungsgesetz am Einspruch der Kirchen gescheitert ist.
Dirk Overhoff nennt das Gleichstellungsgesetz eine „nette Absichtserklärung“. Ohne Antidiskrimierungsgesetz habe man keine einklagbaren Rechte.
Der zweite Kulturbeitrag war ebenfalls eine Gebärdensprachpoesie, diesmal vorgetragen von dem 8-jährigen Lars Grombelka.

Sein Beitrag wurde von den Zuschauern mit langem Beifall bedacht.

Nach der Pause begann die dritte Diskussionsrunde.
Auf dem Podium nahmen Platz: Ilse Grinz (1. Vorsitzende des DSB-Ortsverein Essen, sh) und Renate Welter (DSB, Referat Öffentlichkeitsarbeit, ertaubt). Ilse Grinz stellte detaillierten Fragen zum freiwilligen sozialen Engagement (Ehrenamt) und zur Selbsthilfeförderung, Renate Welter zur Hörgeräteversorgung und zur Gesundheitsreform.

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von links nach rechts: Ilse Grinz, Renate Welter, Moderator Wolfgang Kleinöder

Alle Politiker wollen die ehrenamtliche Arbeit unterstützen, aber die Vorstellungen über das Ausmaß der staatlichen Unterstützung  sind unterschiedlich. Thomas Kufen nannte: Übernahme von Portokosten, Einrichtungskosten, Haftung, Kosten für Fortbildung.
Britta Altenkamp möchte das Expertentum der Selbsthilfegruppen besser nutzen. Gegen zu viel Finanzierung spricht: Ein Ehrenamt solle „von Herzen“ kommen.
Christian Müller meint, dass sich ein Ehrenamt gerade dadurch auszeichnet, dass es nicht staatlich reglementiert ist.
Zur Hörgeräteversorgung und zur Zuzahlung bei Hörgeräten hatten die Politiker wenig konkrete Vorschläge.
Alle bedauerten, dass die Gesundheitspolitik so undurchsichtig ist.
Britta Altenkamp: An der Gesundheitspolitik scheitern viele. Es gibt hier sehr starke Lobby-Interessen, die Schwächsten sind die Patienten. Aber durch das neue Mittel der Verbandsklage gibt es vielleicht neue Wege.
Christian Müller meint, dass alle Parteien hier nur den Mangel verwalten können. Die Hörgeschädigten sind leider im Verteilungskampf des Gesundheitswesens zu kurz gekommen.
Dirk Overhoff sieht, dass Nachkorrekturen dringend notwendig sind.
Vera Etterich nennt als Lösung des Finanzierungsproblems eine „Bürgerversicherung“, in die wirklich alle Bürger einzahlen. Sonst kann man die explodierenden Kosten nicht in den Griff bekommen.

Nach dieser dritten Diskussionsrunde wurde das Podium geöffnet für Fragen aus dem Publikum.
Ein gehörloser Student der Gehörlosenpädagogik kritisierte die geplanten Studiengebühren in NRW. Wenn man das Studium nicht in einer Regelstudienzeit beendet hat, muss man „Strafgebühren“ zahlen. Davon sind besonders Gehörlose und Schwerhörige betroffen, denn sie schaffen selten den Studienabschluss innerhalb dieser Zeit. Die Organisation von Dolmetschern oder Mitschreibekräften kostet Zeit.
Er kritisierte auch, dass Studenten Zuzahlungen für Hörgeräte leisten müssen.

Der nächste Fragesteller forderte, das Gehörlosengeld auch an Schwerhörige zu zahlen, denn sie haben auch zusätzliche Ausgaben: z.B. Batterien oder Zuzahlungen für Hörgeräte.

Eine junge gehörlose Frau kritisierte, dass sie immer hohe Beiträge für Sozialversicherungen zahlt, aber das Gefühl hat, nichts zurückzubekommen.

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Podiumsdiskussion zur Bundestagswahl
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FDP, PDS und CDU lehnten Studiengebühren ab. Gehörlosengeld war den meisten Politikern unbekannt. Britta Altenkamp meinte, dass gehörlose Studierende vielleicht zu den „Ausnahmetatbeständen“ gehören. Vera Etterich hat über Studiengebühren ein zwiespältige Meinung. Die Grünen sind in NRW mit in der Regierung und müssen den Haushalt hinbekommen.

Um 10 Uhr musste der Moderator leider die Zuschauerrunde abbrechen.
Das war sehr schade, denn sicherlich gab es noch viele unbeantwortete Fragen. Erfahrungsgemäß wird durch Zuschauerfragen eine Diskussion erst lebendig.
Wolfgang Kleinöder bedankte sich bei den Politikern für ihr Bemühen zu diesem speziellen Thema. Diplomatisch formulierte er so seine Kritik an dem schlechten Informationsstand.
Er gab den Politikern aber eine Hausaufgabe mit auf den Weg: Sie erhalten die Fragen der Arbeitsgruppen und können sie in ihren Gremien mit Fachleuten besprechen und beantworten. Das Kofo Essen wird diese Antworten veröffentlichen.
Er kündigte auch eine „Qualitätskontrolle“ an: In 2 Jahren wird das Kofo Essen die Politiker noch einmal einladen und prüfen, ob sie mittlerweile über einen besseren Sachverstand verfügen.

Unser Resumee

Ganz deutlich war das Missverhältnis zwischen der guten und aufwändigen Vorbereitung für dieses Kofo und dem schlechten Wissensstand der Politiker. Vielleicht liegt es daran, dass Behindertenpolitik in diesem Wahlkampf keine Rolle spielt. Vielleicht werden aber auch die Behinderten nicht als Wählerpotential von allen Politikern ernst genommen.
Die Betroffenen müssen als Selbstkritik mitnehmen: Man muss den Politikern ständig „auf die Füße treten“. Sich oft bemerkbar machen – nicht nur zu Wahlkampfzeiten.
Positiv ist festzuhalten: Die Politiker hatten auf diesem Kofo die (vielleicht erste) Gelegenheit, eine „barrierefreie“ Kommunikation zu erleben. Wir hoffen, dass sie aus dieser Veranstaltung einige Anregungen mitnehmen für ihre politische Arbeit.

Text: Helga Ulbricht
Fotos: Frank Brüggemann

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