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Hat Jugendarbeit eine Zukunft ?

by ulbricht
Kofo Essen, 13.03.2002

Hat Jugendarbeit eine Zukunft ?

Referenten: Markus Meincke (Fachausschuss Jugend im DGB)
André Munk-Wendlandt (Bundesjugend im DSB)

Es gab viele Gründe, dieses Thema in das Kofo-Programm aufzunehmen:
Die Verbände klagen über Nachwuchsmangel, hörbehinderte Jugendliche haben mehr Interesse an Internet und Parties – aber weniger am Vereinsleben. Trotzdem gibt es Jugendliche, die sich allein gelassen fühlen und Treffmöglichkeiten vermissen.

Markus Meincke und André Munk-Wendlandt diskutierten mit der Moderatorin Winny Stenner über Aufbau und Schwierigkeiten der Jugendarbeit, aber auch über neue Ideen und Chancen.

Hat Jugendarbeit eine Zukunft?

Winny:
Wie ist die Entwicklung eures Verbandes ?
Was sind eure Arbeitsschwerpunkte ?

André:
Schon 1958 wurde der Jugendverband gegründet. Früher gab es viele Jugendgruppen, die meisten waren auch eingetragene Vereine, so konnten sie finanzielle Zuschüsse bekommen. Die Entwicklung ist leider rückläufig: Jetzt gibt es nur noch in einigen größeren Städten Jugendgruppen.

Die Bundesjugend ist ein Interessenverband der Frühschwerhörigen bis 35 Jahre. Wichtige Ziele sind: Verbesserung der Kommunikation und Hilfe bei der Hörgerätebezahlung. Die Jugendgruppen sind auch Auffangbecken für junge Erwachsene, die Schwierigkeiten haben, ihre Schwerhörigkeit zu verarbeiten.
Das ist besonders wichtig für Jugendliche, die in einer Regelschule sind. Sie lernen erst in einer Jugendgruppe andere schwerhörige Jugendliche kennen und können sich über ihre Probleme austauschen.
Schwerpunkte der heutigen Arbeit sind:
– Workshops (Internet, Trommeln, Kommunikationskurse)
– Organisation und Durchführung von Sommercamps
– Erstellen von Broschüren z.B. „Schwerhörigkeit – behinderte Kommunikation“ und „Veranstaltungen hörgeschädigtengerecht planen“. Diese neue Broschüre erklärt, was man bei der Durchführung von Veranstaltungen berücksichtigen muss: Induktionsschleife, GebärdensprachdolmetscherIn, Mitschreibekraft, Lichtverhältnisse.
Zum Abschluss forderte André die Zuschauer auf, Mitglied in einem Verein zu werden. Ein großer Verein mit vielen Mitgliedern kann politisch Druck machen und mehr erreichen.

Markus (Micky):
In Deutschland gibt es schon lange die DGSJ (Deutsche Gehörlosen-Sportjugend), das ist die traditionelle Jugendarbeit. Es gab aber keine Angebote für Freizeit, Kultur, Politik.
Micky hat diese Jugendarbeit in den USA kennen gelernt.
Uli Hase – damals Präsident des DGB – bat Stefan Goldschmidt, Achim Zierl und Markus, Jugendarbeit für Gehörlose aufzubauen. Das genaue Ziel war am Anfang noch nicht klar. Sie besuchten jedes Bundesland. In einer „Jugendkonferenz“ kamen Vertreter aus den Bundesländern zusammen und berichteten über die Situation für Jugendliche. Danach gab es in jedem Bundesland Schulungen für Jugendarbeit. Seit 1999 gibt es den Fachausschuss „Jugend“ im DGB.
Ziel ist: der Aufbau eines Jugendnetzes.
In München (GMU) hatte man die Idee, ein Jugendcamp als bundesweites Angebot durchzuführen – ähnlich wie in den USA. Später kam ein Kindercamp (für Kinder unter 15 Jahren) dazu.

Hat Jugendarbeit eine Zukunft?
Hat Jugendarbeit eine Zukunft?

Winny:
Wie sieht die Zusammenarbeit zwischen Gehörlosen- und Schwerhörigenbund aus ?

André:
Bei den Bundesjugendverbänden gibt es noch keine Zusammenarbeit. Wir sind beruflich eingespannt, es klappt zeitlich nicht, noch eine Zusammenarbeit mit anderen Verbänden aufzubauen.
Aber an der Basis gibt es Zusammenarbeit. Hier in Essen trifft sich eine gemeinsame Jugendgruppe für gl und sh Jugendliche von 12 bis 17 Jahren, das läuft sehr gut.
In Zukunft wird es sicher eine Zusammenarbeit auf Verbandsebene geben.

Micky:
Wir 4 vom Fachausschuss Jugend (Micky, Stefan, Susanne, Doris) haben uns schon darüber Gedanken gemacht. Wir schaffen es nicht. Einige haben eine Familie gegründet und machen die Vereinsarbeit ehrenamtlich neben ihrem Beruf. Wenn es mehr Leute wären, könnte man es besser aufteilen.
Wir haben erst 1998 begonnen und brauchen noch Zeit. Unsere Ziele sind ja gleich, es gibt auch immer mehr Schwerhörige mit DGS-Kenntnissen. Später ist es sicher möglich.

Winny:
Viele Jugendliche wollen nicht in einem normalen Gehörlosen- oder Schwerhörigen-Verein Mitglied sein.
Es gibt Jugend-Initiativen, aber sie arbeiten unabhängig vom Verein.
Wie reagieren die Vereine und Verbände darauf ?

Micky:
Wir haben 1997 in München angefangen mit Freizeitangeboten für Jugendliche. Ich war damals Vorsitzender im Jugendbereich.
Gerlinde Gerkens bat, alle sollen Mitglied im Landesverband sein, aber München wollte lieber eigenständig bleiben – das war eine schwierige Situation.

André:
Im Schwerhörigenbereich ist es etwas anders. Hier gibt es seit 40 Jahren Vereinsarbeit.
Aber wir sehen auch: Vereinsarbeit ist nicht attraktiv für Jugendliche. Sie sind eher bereit, in Projekten mitzuarbeiten. Sie wollen sich nicht auf Dauer verpflichten.
Deshalb haben wir das Sommercamp für Jugendliche eingerichtet: man kann für eine kurze Zeit mitmachen.

Markus:
Die Vereine haben sich beschwert: Wo bleibt der Nachwuchs ?
Der Grund ist einfach: Die Jugendlichen haben schnell Ämter bekommen, Schriftführer, Kassierer – das schreckt ab. Man soll sie erst heranwachsen lassen, vielleicht sind sie mit 30 Jahren bereit, ein Amt zu übernehmen.

Susanne:
Im Bereich der Landesverbände ist die Situation katastrophal. Das Thema „Jugendliche“ muss auf den Tisch, nicht unter den Tisch. Es wird viel Seniorenarbeit gemacht, aber Jugendliche haben andere Interessen. Sie wünschen sich auch mehr Freiheiten.

Winny:
Wie alt sind die „Jugendlichen“ ? Die Interessen sind doch abhängig vom Alter. Mit welchen Angeboten erreicht ihr die Jugendlichen ?

André:
Schwerhörige verstecken oft ihre Schwerhörigkeit, besonders wenn sie in Regelschulen unterrichtet werden. Später im Beruf bekommen sie Schwierigkeiten und merken, dass sie viel verpasst haben. So gibt es Leute mit 28 oder 35 Jahren, die in eine Jugendgruppe kommen.
In den Sommercamps versuchen wir, die Identitätsprobleme anzusprechen.
Bis 35 Jahren kann man Mitglied in der Bundesjugend sein.

Micky:
Gehörlose Jugendliche mit hörenden Eltern kennen die Vereine und ihre Angebote nicht.
Sie leben im Schul-Internat in einer total abgeschnittenen Welt. Auf einem Schülertreff haben sie zum ersten Mal von Vereinsangeboten erfahren. Sie waren erstaunt und zeigten Interesse.

André:
Ich habe von einem Lehrer an einer Schwerhörigenschule diese Meinung gehört: „Ich kann doch meine schwerhörigen Jugendlichen nicht auf eine Insel schicken !“ Das ist typisch für Lehrer, Eltern und Akustiker. Sie möchten, dass die Kinder mit hörenden Freunden ihre Freizeit verbringen.
Es ist immer noch schwierig, die Jugendlichen zu erreichen. Trotz SGB IX, trotz Anerkennung der Gebärdensprache. Besonders die CI-Träger brauchen Hilfe. Deshalb haben wir ein Netzwerkprojekt geschaffen für Kinder und Jugendliche mit CI auf normalen Schulen. Es hat sich also viel entwickelt, aber bei den Eltern ist es noch nicht angekommen.

Micky:
Die Vereinsarbeit für Jugendlich war bis in die 80er Jahre nur auf den Sport fixiert.
Die Sportangebote waren für Jugendliche ab 14 Jahren, für Kinder gab es nichts.
Ein erster Schritt sind die Kinder- und Jugendcamps. Aber es fehlt noch an Öffentlichkeitsarbeit.

Hat Jugendarbeit eine Zukunft?
Hat Jugendarbeit eine Zukunft?

Susanne:
Heute haben sich Gesellschaft und Wünsche der Jugendlichen geändert: Internet, Parties, Love-Parade, Kino, mehr Freiheiten – wie sieht es bei gehörlosen und schwerhörigen Jugendlichen aus ?

André:
Jugendliche heute haben viele Möglichkeiten der Freizeitgestaltung. Dadurch wird die Jugendarbeit schwieriger. Wir können nicht konkurrieren mit großen Veranstaltungen.

Micky:
Es gibt die Fun-Gesellschaft, das Internet, die großen Parties – vor 10 Jahren war es noch anders.

Zuschauer (Pfarrer):
Das Problem Jugendarbeit gibt es überall, auch in der Gemeinde. Die Jugendlichen wollen konsumieren; man geht ins Internet und sucht nach Angeboten. Nur wenige wollen selbst etwas entwickeln.
Große politische Themen wie früher (Friedensbewegung) gibt es nicht.
Die Jugendgruppen haben alle ähnliche Ziele – sie müssen sich untereinander vernetzen und Kontakt nach außen suchen.
Man muss professionell arbeiten und Strukturen schaffen.

André:
Richtig: Man braucht Leute, die bezahlt werden und die Organisation übernehmen.
Aber die Finanzierung ist schwierig. Die Bettelbriefe an Stiftungen und Ministerien für das Sommercamp füllen einen ganzen Ordner. Wäre schön, wenn es in jedem Bundesland eine bezahlte Kraft gäbe.

Markus:
Bei uns ist das Problem ähnlich. Die Eltern der Kinder und Jugendlichen haben schon viele Maßnahmen bezahlt, es darf nicht so teuer sein. Die Verwaltungsarbeit ist groß.

Winny:
Gibt es Verhaltensauffälligkeiten bei den Kindern und Jugendlichen ? Haben sie Kontakt zu Neo-Nazi-Gruppen, gibt es Drogenprobleme ? Leiden sie unter Leistungsdruck und damit einhergehenden Problemen wie Ess-Störungen, Aggression, Depressionen ?
Wie geht ihr mit den Schwierigkeiten um ?

Micky:
Nein, dazu kann ich wenig sagen. Es gibt andere Schwierigkeiten, z.B. bei CI-Kindern. Beim letzten Jugendcamp waren auch CI-Kinder dabei, es gab darüber Diskussionen in der Gruppe. Ein Jugendlicher hat dann sein CI abgelegt, hat die „stille Welt“ erfahren und es nach den 2 Wochen wieder getragen. Ein Schwerhöriger wollte lieber in die Gehörlosenschule wechseln – da haben wir auch vermittelt.
Auf den Camps können wir gut über solche Schwierigkeiten sprechen. Aber Leute mit großen Problemen kommen nicht in die Jugendgruppen.
Neonazis gibt es bei den Gehörlosen auch, aber an diese extremen Gruppen kommen wir nicht heran. Es ist auch eine Aufgabe für Schulen und Einrichtungen.

André:
Diese Schwierigkeiten spüren wir nicht. Solche Jugendliche kommen nicht zu uns – die haben ihre eigenen Cliquen.
Winny:

Wie sieht Jugendarbeit in anderen Ländern aus ? Gibt es dort eine Zusammenarbeit zwischen Gehörlosen- und Schwerhörigenverbänden ?

Micky:
In den USA gibt es keine eigene Schwerhörigenarbeit. Auch Schwerhörige nennen sich „deaf“, sogar wenn sie telefonieren können.
Ich war mit Andreas Sailer in den USA, wir haben Konzepte ausgetauscht.
Dort ist die Arbeit sehr professionell, sie haben über 30 Jahre Erfahrung. Die Jugendcamps dauern 4 Wochen. Es gibt Workshops, Theater, Diskussionen mit bekannten Referenten, Sport, Lagerfeuer…

Hat Jugendarbeit eine Zukunft?
Hat Jugendarbeit eine Zukunft?

André:
Im Ausland gibt es Camps für schwerhörige Kinder und Jugendliche. Die Schweiz hat ein sehr gutes Konzept entwickelt. Dort gibt es Camps zu bestimmten Themen – z.B. Indianer. In Schweden gibt es internationale Jugendarbeit. Dort treffen sich Jugendliche aus ganz Europa.
Eine Zusammenarbeit zwischen Gehörlosen- und Schwerhörigen-Jugendverbänden gibt es im Ausland auch noch nicht.

Zuschauer:
Ich habe hier in Essen noch nichts vom Jugendcamp für Gehörlose erfahren.

Micky:
Ja, die Weitergabe von Information ist ein großes Problem. In NRW ist es am schwierigsten. Obwohl hier die meisten Gehörlosen wohnen, hatten wir noch keine Anmeldung aus NRW. Susanne hat dann Werbung gemacht – und nun haben wir einige Anmeldungen aus Dortmund.

Winny:
Noch einmal zur Zusammenarbeit und zum Ausblick in die Zukunft.
Immer mehr Kinder bekommen ein CI. Vielleicht gibt es in 20 Jahren eine ganz neue Organisation für Hörbehinderte – oder gar nichts mehr.

Micky und André:
Wir haben nur wenige Mitarbeiter, zuerst muss jeder sein eigenes Werk fertig machen, dann können wir daran denken, ein gemeinsames Haus zu bauen.

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