Jahrgang 2003
Der Deutsche Gehörlosen-Bund – Wo geht es hin? Aufgaben für die Zukunft
Referentin: Gerlinde Gerkens
Gerlinde Gerkens ist seit 1999 Präsidentin des Deutschen Gehörlosen-Bundes und wurde auf der letzten Bundestagung 2003 in Erfurt wiedergewählt. Sie ist ein „Publikumsmagnet“ – sicher auch wegen ihrer Ausstrahlung und Offenheit – so war mit ca 150 Kofo-Besuchern die Mensa des Internates Curtiusstraße rappelvoll. Moderatoren waren an diesem Abend Winny Stenner und Frank Brüggemann; Bastienne Rehe (Skarabee) und Friedel Lechtleitner dolmetschten in Gebärdensprache, Gisela Kaul übernahm wieder das Schriftdolmetschen.
Frau Gerkens informierte über den Aufbau des Deutschen Gehörlosen-Bundes, über die schwierige finanzielle Situation, die Erfolge in den letzten Jahren und die aktuellen und zukünftigen Arbeitsschwerpunkte. Ihr lebendiger Vortrag kann hier nur in Stichpunkten wiedergegeben werden.
Aufbau des Deutschen Gehörlosen-Bundes
Insgesamt hat der DGB 34 000 Mitglieder – organisiert in 24 Verbänden, z.B. Landes-, Orts- und Sportsverbänden. Nur zwei Personen (auf 1 ½ Stellen) arbeiten hauptamtlich für den DGB, das gesamte Präsidium arbeitet ehrenamtlich.
Finanzen
Ende 2001 stand der DGB mit 240.000 DM in den roten Zahlen. Die Kulturtage in München brachten weitere 80 000 DM Schulden. Auf der Bundestagung 2002 wurde deshalb ein strenger Sparkurs beschlossen. Alle waren bereit, zu helfen – z.B. wurde auch das Porto aus der eigenen Tasche bezahlt. Dank der großen Solidarität beträgt der Schuldenberg nur noch 20.000 Euro.
Bisherige Arbeit und Erfolge in der Gesetzgebung:
In den vergangenen 4 Jahren wurde vieles erreicht:
1999–2003 | Landesgleichstellungsgesetze in Berlin, Schleswig-Holstein, Bayern, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt |
2000 | Neues Schwerbehindertengesetz mit Rechtsanspruch auf Arbeitsassistenz |
2001 | Sozialgesetzbuch IX mit Anerkennung der Gebärdensprache, Recht auf Gebärdensprachdolmetscher bei Sozialhilfeträgern, Servicestellen, Merkzeichen GL |
2002 | Bundesgleichstellungsgesetz mit Anerkennung der Gebärdensprache, Möglichkeit der Zielvereinbarungen, Verbandsklagerecht |
Arbeitsschwerpunkte jetzt:
Aufgrund der schwierigen finanziellen Situation wurden die 14 Fachausschüsse „auf Eis“ gelegt. Zu thematischen Schwerpunkten wird die Arbeit fortgesetzt. Zur Zeit gibt es diese Arbeitsgruppen:
· Entwicklung eines Berufsbildes für gehörlose GebärdensprachdozentInnen: Einrichtung eines Ausbildungsganges mit staatlicher Prüfung. Dieser Ausbildungsgang soll nur für Gehörlose angeboten werden.
· Qualitätssicherung für die Ausbildung und Prüfung von GebärdensprachdolmetscherInnen:
Die Ausbildung soll Dolmetschen auf gutem Niveau sicher stellen. Verkürzte Ausbildungen wie 2-jährige Umschulungen können diese Anforderung in der Regel nicht erfüllen. Gütekriterien für Dolmetscher werden entwickelt und an Krankenkassen und Integrationsämter weitergegeben.
· Verbesserung des Angebots für Gehörlose im Fernsehen und Barrierefreiheit
Mehr Untertitel im Fernsehen und Einblendung von GebärdensprachdolmetscherInnen sind notwendig. Auf Reisen, in öffentlichen Gebäuden, bei öffentlichen Veranstaltungen und im Internet muss mit Untertitel oder GebärdensprachdolmetscherInnen informiert werden.
· Telekommunikation
Ein Relay-Service soll 24 Stunden / Tag arbeiten. Man kann das Kommunikationsmittel (Schreibtelefon, Bildtelefon….) frei wählen.
Was bleibt zu tun ? Zukünftige Aufgaben:
Umsetzung des SGB IX und des Behindertengleichstellungsgesetzes.
Die Kommunikationshilfeverordnung (2002) regelt den Einsatz von Gebärdensprachdolmetschern und Kommunikationshelfern (z.B. Schriftdolmetschern). Oft ist nicht klar: Wie stelle ich einen Antrag auf Dolmetscher ? Wer bezahlt das ?
Im Behindertengleichstellungsgesetz steht: Anerkannte Verbände (z.B. der DGB) können mit privaten Firmen „Zielvereinbarungen“ abmachen (= Verbesserungen für Behinderte beschließen). Das Problem: Die Firmen sind nicht verpflichtet, Vereinbarungen zu unterschreiben. Mit öffentlichen Einrichtungen (z.B. staatliche Fernsehanstalten) kann man keine Zielvereinbarungen abschließen. Hier haben die Politiker nicht aufgepasst. Die Erfahrungen bisher zeigen: Man kann mit „Zielvereinbarungen“ wenig erreichen.
Landesgleichstellungsgesetze in allen Bundesländern.
Wichtig: Einbezug der Schulen. Hier sind auch die Landesverbände gefordert.
Gehörlose Fachkräfte sollen im pädagogischen, sozialpädagogischen, technischen und medizinischen Bereich tätig werden können. Zum besseren Erfahrungsaustausch soll es bundesweite Seminare geben.
Gründung eines Jugendverbandes und Förderung der Kinder- und Jugendarbeit
Auf der Bundestagung in Erfurt wurde beschlossen: Ein Jugendverband wird im Frühjahr gegründet. Einige Landesverbände waren dagegen – aber es ist wichtig, dass die Jugend einen eigenen Verband hat. So kann man sie vielleicht später für den DGB gewinnen.
Das Jugendcamp wurde 2003 wieder durchgeführt und soll – wie das Kindercamp – auch in den nächsten Jahren stattfinden.
Weitere Aufgaben: Förderung der Frauen- und Seniorenarbeit, bessere Zusammenarbeit mit Taubblinden
Sie sagen: Hörende dürfen nicht Gebärdensprachdozenten werden. Wenn gehörlose Eltern hörende Kinder haben, dann lernen ihre Kinder die Gebärdensprache und die Gehörlosenkultur. Warum sollen sie nicht Gebärdensprache unterrichten ?
G.G.: Gehörlose haben geringe Chancen im Berufsleben. Gebärdensprache ist unsere Sprache. Gehörlose sollen Hörende unterrichten. Hörende, die mit der Gebärdensprache arbeiten möchten, können Gebärdensprachdolmetscher werden.
Meine zweite Frage: Das Kindercamp ist wichtig. Gehörlose Kinder sollen sehen, wie es in der Gehörlosenwelt aussieht. Das ist ein Traum, den ich schon lange habe.
G.G.: Richtig. Die Jugend hat gute Ideen. Gehörlose Kinder und Jugendliche sollen von Gehörlosen unterrichtet werden. Sie wissen nicht, dass Gehörlose viel erreichen können. Es gibt eine Gehörlosenpräsidentin – also macht etwas aus euch.
Ich war überrascht über die hohen Schulden – jetzt sind sie abgebaut. Wie habt ihr das geschafft?
G.G.: Wir haben einen Schatzmeister ernannt, alle 4 Jahre gibt es eine Generalversammlung mit Wahl und einem Kassenbericht. Wir haben jetzt nur 2 Vizepräsidenten (früher 3), einen Schatzmeister und einen hauptamtlichen Geschäftsführer. Ich bin Kauffrau und mein Nachfolger soll einen Überblick über die Finanzen haben. Die Solidarität und die Spendenbereitschaft vieler Leute haben uns sehr geholfen.
Meine zweite Frage: Finden die Kulturtage 2005 in Köln statt ?
G.G. Das ist nicht sicher. Ich wünsche, die Kulturtage finden in Köln statt. Aber wir brauchen die Unterstützung vor Ort.
Mein Name ist Dieter Zelle. Vor einem Monat haben wir einen Verein für Taubblinde und Sehbehinderte gegründet. Wir haben uns informiert in anderen Ländern. Deutsche Gebärdensprache für Taubblinde ist schwer, weil das Mundbild und die Mimik wichtig sind. Eine einheitliche Sprache ist besser. Warum gibt es diese Unterschiede in der Gebärdensprache ?
G.G.: Danke für den Beitrag. Es gibt in Deutschland verschiedene Dialekte. Taubblinde benutzen neben dem Lormen die taktile Gebärdensprache. Sie haben Recht, die Gebärdensprache sollte vereinheitlicht werden.
Welche Qualifikation muss ein Gehörloser mitbringen, wenn er Gebärdensprachdozent werden möchte?
G.G.: Hauptschulabschluss und Berufsabschluss.
Noch eine Frage. Du hast gesagt, Hörende dürfen nicht Gebärdensprache unterrichten, weil Gehörlose weniger Berufschancen haben. Aber: Wie hoch darf die Schwerhörigkeit sein, um diesen Beruf zu erlernen ? Die gleiche Situation kann ich auf die bilingualen Schulversuche übertragen. Da sagt man als Hörender: Ein Gehörloser mit Lehrerausbildung kann nicht Deutschunterricht erteilen, weil er gehörlos ist. Ich denke, es ist besser, wenn jeder Unterricht in dem Fach machen kann, das seiner Neigung und seinen Fähigkeiten entspricht.
G.G: Das Fach Gebärdensprache soll kein Hörender unterrichten. In meiner Zeit als Präsidentin möchte ich das nicht. Hörende können den Beruf des Gebärdensprachdolmetschers ergreifen, der Beruf des Gebärdensprachdozenten soll Gehörlosen vorbehalten bleiben. Auch Schwerhörige und Ertaubte mit entsprechender Gebärdensprachkompetenz können diesen Beruf erlernen. Nur hörende Gebärdensprachdozenten dürfen nicht sein.
Es gibt jetzt viele verschiedene Berufsmöglichkeiten im pädagogischen Bereich für Gehörlose. Aber in den Schulen und im Kindergarten sind die Stellen von Hörenden besetzt. Gibt es eine Möglichkeit, die Stellen für Gehörlose frei zu machen ?
G.G.: Das ist schwierig. Die Hörenden haben einen Arbeitsplatz – vielleicht kann man es durch das Gleichstellungsgesetz in bestimmten Einrichtungen (Barrierefreiheit) durchsetzen. Z.B. Kliniken für Suchtkranke müssen Personal haben, das Gebärdensprache beherrscht.
Meine Mitglieder und ich freuen uns, dass Sie hier sind. Der Stadtverband der Gehörlosen Essen gratuliert Ihnen zur Wiederwahl und wünscht viel Erfolg. Statt Blumen überreichen wir Geld.
Ich bin hörend und mache die Ausbildung zum Gebärdensprachdolmetscher in Essen. Ich bin betroffen über das, was Sie eben berichtet haben. Wir haben dafür gekämpft, diese Ausbildung zu machen.
G.G. Ich betone: Es gibt eine Ausnahme hier in NRW, den IHK-Abschluss zu machen. Das akzeptieren wir,denn diese Prüfung vor der IHK in diesem Bundesland ist sehr anspruchsvoll. Diese Gruppe wird von uns anerkannt.
Informiert der DGB auch über technische Hilfsmittel für Gehörlose ?
G.G.: Diesen Fachausschuss gibt es nicht mehr, aber wir machen uns Gedanken, wie man über technische Neuerungen informieren kann.
Der Deutsche Gehörlosen-Bund hat das Verbandsklagerecht. Viele Gehörlose haben die diskriminierende Werbung der Firma Wyeth gesehen. Kann man als Verband gegen Firmen klagen, die Gehörlose öffentlich diskriminieren ?
G.G.: Ich war sehr betroffen von dieser Werbung. Wir können nur für eine Person klagen, nicht für die ganze Gruppe. Wenn wir klagen, müssen wir einen Juristen haben, der uns berät. Wir haben damals 1000 Euro Schadenersatz bekommen. Es ist noch nicht ganz klar, wie weit das Verbandsklagerecht geht, in welchen Fällen es helfen kann und in welchen nicht. Das müssen wir noch herausfinden.
Der Landesverband kann eine Verbandsklage nicht einreichen. Wir müssen bundesweite Verbesserungen erreichen und deshalb eine bessere Zusammenarbeit zwischen Landesverbänden und DGB schaffen. Wir müssen uns auch Gedanken machen, wie wir Rechtsanwälte finanzieren können.
Nach 2 Stunden beendete Winny die Diskussion und Gerlinde Gerkens verabschiedete sich vom Publikum – nicht von allen, denn in einer Kneipe ging es anschließend noch weiter…
Hinweis: Der Deutsche Gehörlosen-Bund führt eine sehr informative Website:
Bericht und Fotos:
Helga Ulbricht (Trotz guter Dolmetschleistung kann es zu Missverständnissen kommen. Wenn eine Meinung nicht richtig wiedergegeben ist, wendet euch bitte an den Webmaster. Danke)